Rumi-Impuls e.V.

Autor: Jan Straßheim

Der deutsche Alltag ist manchmal ein Abenteuer. Eine Fahrt mit der Bahn kann zu einer ungewollten Übernachtung an unbekanntem Ort führen. Wer einen Termin bei einer Behörde buchen will, lässt sich auf einen Wettlauf mit vielen anderen ein, die ebenfalls dort vorsprechen und nicht Wochen oder Monate warten wollen. Das verträgt sich nur schwer mit einem verbreiteten Bild der Deutschen von sich selbst: Wir seien gut organisiert, pünktlich, zuverlässig. Zum Glück gibt es aber eine Erklärung, die unsere innere Harmonie wiederherstellt: „Es geht nicht anders.“ Die Schienen seien eben alt und die Termine knapp. Mehr noch: Gerade dass „wir“ so gründlich arbeiteten, mache alles etwas schwieriger. Und: Anderswo sei es noch schlimmer.

Es hilft, das eigene Selbstbild mit dem Bild zu vergleichen, das andere von uns haben. Besuchen wir einen Inselstaat auf der anderen Seite des Erdballs. Fragt man Japaner_innen, was sie von Deutschland denken, sagen viele: Die Deutschen arbeiten „ernsthaft“: Sie sind präzise und ordentlich, und wenn sie etwas machen, dann funktioniert es auch. Na bitte! Aber Vorsicht ist geboten, denn dieses Bild haben nicht zuletzt Deutsche ab dem 19. Jahrhundert in Japan verbreitet, und Deutschland ist weit weg.

Fragen wir also Japaner_innen, die Deutschland besucht oder dort gelebt haben, wie sie das Land fanden. Weil man in Japan bekanntlich höflich ist, werden Ihre Gesprächspartner_innen zunächst mit einem vagen „schön“ oder einem schon etwas verdächtigen „interessant“ antworten. Im nächsten Schritt, am besten bei einem Bier (das beliebteste alkoholische Getränk in Japan), können Sie Ihrem Gegenüber entlocken, dass er oder sie verwundert war, wie weit die Wirklichkeit vom Ideal abwich. Beim zweiten Bier wird man Ihnen oft gestehen, dass auf die deutsche Arbeitsweise in weiten Bereichen vielleicht weniger das Prädikat „ernsthaft“ (majime) zutreffe als das Gegenteil im japanischen Wortschatz: tekitō, also „nachlässig“ oder „aufs Geratewohl“.

Fast nie hören werden Sie hingegen die Erklärung „Es geht nicht anders“. Das liegt natürlich auch daran, dass aus japanischer Sicht das Bild von Deutschland kein Selbstbild ist, das man retten müsste. Vor allem aber liegt es daran, dass man jeden Tag sieht: Es geht anders. Nach Zügen kann man in Japan die Uhr stellen, und während die Deutsche Bahn „Pünktlichkeit“ recht selbstbewusst in eine Verspätung von weniger als 6 Minuten umdefiniert, entschuldigt man sich in Japan per Durchsage, falls ein Zug ein paar Minuten zu spät kommt.[1] Auch gibt es in Japan keine Termine bei Behörden und Arztpraxen. Man braucht nämlich keine. Wenn Sie in Tokyo standesamtlich heiraten oder Ihren Bauch röntgen lassen wollen, gehen Sie während der Öffnungszeiten zum Bezirksamt bzw. zum Radiologen, melden sich am Empfangstresen an und warten, bis man Sie aufruft.

Damit will ich keinesfalls sagen, dass in Japan alles gut oder auch nur besser wäre. Aber ich glaube, es würde uns Deutschen guttun, etwas Luft aus dem kollektiven Ego zu lassen und unvoreingenommen zu schauen, wie Andere uns wahrnehmen und was anderswo möglich ist. Fortschritte können wir nur dann machen, wenn wir aufhören, unserem Selbstbild zu schmeicheln, indem wir glauben, es ginge nicht anders.

[1] Die hohe Pünktlichkeit kennzeichnet den gesamten Nah- und Fernverkehr japanischer Bahnunternehmen und nicht nur die Hochgeschwindigkeitszüge, wie die Deutsche Bahn behauptet (www.deutschebahn.com/de/konzern/Aktuelles/Der-Bahn-Laendervergleich-Deutschland-Japan-9561052).