In der antirassistischen Arbeit begegnet mir immer wieder eine verkürzte Sichtweise, die ich für gefährlich halte: Die Vorstellung, Antisemitismus sei eine Form von „weißer Gewalt gegen weiße Menschen“ ein „inner-europäisches Problem“, das keinen Platz im globalen Diskurs über Rassismus habe.
Diese Haltung ignoriert gleich zwei grundlegende Wahrheiten:
Erstens: Jüdinnen und Juden wurden, historisch wie ideologisch, nicht als Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft betrachtet, sondern als Fremdkörper, Bedrohung, Feindbild. Die nationalsozialistische Ideologie beispielsweise definierte „jüdisches Blut“ als etwas „Zersetzendes“, das die „arische Rasse“ angeblich vernichten wolle. Das ist keine gewöhnliche Form von Vorurteil das ist Verschwörungsdenken mit eliminatorischem Ziel.
Zweitens: Antisemitismus ist nicht auf Europa oder „Weiße“ beschränkt. Er ist global. Er existiert in atheistischen, christlichen, muslimischen, linken und vor allem in rechten Kontexten. Er zeigt sich in schwarzen, weißen, arabischen, asiatischen und europäischen Gesellschaften.
Er passt sich an Kulturen, Sprachen und politische Lager an, immer wandelbar, aber in seinem Kern gleich: die Vorstellung, dass „die Juden“ eine verborgene, manipulative, zerstörerische Macht seien.
Das unterscheidet Antisemitismus von vielen anderen Formen des Rassismus:
Während rassistische Ideologien meist auf Abwertung, Entmenschlichung und Unterordnung beruhen, funktioniert Antisemitismus oft über Überhöhung und Dämonisierung. Jüdinnen und Juden werden nicht als schwach, sondern als gefährlich mächtig imaginiert als „Strippenzieher“, „Weltenlenker“, „Systemkontrolleure“. Diese Projektion macht ihn so gefährlich und anschlussfähig, selbst in Kontexten, die sich als „emanzipatorisch“ verstehen.
Deshalb ist es falsch und gefährlich, Antisemitismus in eine einfache Weiß/Nichtweiß-Dichotomie einzuordnen. Er kennt keine feste Hautfarbe. Keine bestimmte Religion. Kein eindeutiges politisches Lager.
Er ist eine universelle Verschwörungserzählung, die sich durch Jahrhunderte und über Kontinente zieht mal religiös begründet, mal rassistisch, mal antikapitalistisch, mal antizionistisch getarnt.
Wer Antisemitismus ernst nimmt, muss diese Komplexität anerkennen.
Und wer ihn relativiert, weil er nicht ins eigene Weltbild oder in die eigene Diskriminierungslogik passt, macht sich blind und letztlich mitschuldig.
Antisemitismus ist kein Randphänomen und keine Fußnote europäischer Geschichte. Er ist eine weltweite, anhaltende Bedrohung für Jüdinnen und Juden und für jede offene Gesellschaft.